Ausgabe 51

1 Die hier vorgestellten Texte Dritter geben die Meinungen der vorgestellten Autor:innen und nicht unbedingt die Meinung der BAS wieder.
Wirksame Behandlung von psychischen Störungen und Substanzstörungen in 21 Ländern
Hintergrund
Psychische Erkrankungen und Substanzgebrauchsstörungen gehören zu den weltweit belastendsten und teuersten Gesundheitsproblemen. Trotz der Verfügbarkeit kosteneffektiver Behandlungsansätze werden diese in der Praxis häufig unzureichend genutzt. In der Versorgungsforschung spricht man in diesem Zusammenhang von der sogenannten Versorgungskaskade, die drei zentrale Stufen umfasst: (1) Kontakt mit dem Versorgungssystem, (2) minimal angemessene Behandlung, (3) tatsächlich wirksame/leitliniengerechte Behandlung. Soweit bekannt gibt es bislang keine Untersuchungen, die die zentralen Elemente der Versorgungskaskade für psychische Störungen analysieren. Ziel der Studie ist es, Muster und Einflussfaktoren zu identifizieren, die mit einer wirksamen Behandlung von neun häufigen psychischen Störungen assoziiert sind. Zudem wird untersucht, welcher Anteil der betroffenen Personen in den vergangenen zwölf Monaten eine leitlinienbasierte Behandlung erhalten hat.
Methoden
In dieser Querschnittsstudie wurden basierend auf den World Mental Health Surveys repräsentative Haushaltsstichproben von Erwachsenen ab 18 Jahren aus 21 Ländern untersucht (n = 56.927). Die Zwölfmonatsprävalenz und die Behandlung von neun häufigen psychischen Störungen nach DSM-IV, darunter fünf Angststörungen, zwei affektive Störungen (Depression, bipolare Störung) und zwei Substanzgebrauchsstörungen (Alkohol, Drogen), wurden mit dem Composite International Diagnostic Interview bewertet. Für jede Diagnose wurde analysiert, ob eine leitliniengerechte Behandlung erfolgte. Eine Behandlung galt als wirksam, wenn sie sowohl in Häufigkeit und Qualität als auch in Bezug auf das passende Setting (z. B. Psychotherapie) den internationalen Standards entsprach. Die Analyse umfasste sowohl individuelle Prädiktoren wie das Geschlecht, Alter, Bildung, Versicherungsstatus als auch länderspezifische Faktoren (z. B. Ausgaben für Gesundheitswesen, Zahl an Ärztinnen und Ärzten, Human Development Index). Die wirksame Behandlung und ihre Komponenten wurden anhand von Kreuztabellen geschätzt. Zur Untersuchung der Prädiktoren wurden mehrstufige Regressionsmodelle verwendet.
Ergebnisse
Weltweit erhielten lediglich 6,9 % der Betroffenen mit einer 12-Monatsprävalenz für eine psychische oder Suchterkrankung eine effektive Behandlung. Bei affektiven Störungen lag die Quote bei 8,4 %, bei Angststörungen bei 7,3 % und bei Substanzgebrauchsstörungen nur bei 1,7 %. Die größten Barrieren entlang der Versorgungskaskade waren ein fehlendes Problembewusstsein (46,5 %) und eine niedrige Kontaktquote mit dem Gesundheitssystem trotz erkanntem Bedarf (34,1 %). Selbst unter den Personen, die eine minimal angemessene Behandlung erhielten, war diese nur in 47 % der Fälle tatsächlich wirksam.
Frauen, Personen mittleren Alters (30 – 59 Jahre), Personen mit höherem Bildungsniveau und mit bestehender Krankenversicherung hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, eine wirksame Behandlung zu erhalten. Auf Länderebene war der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP sowie die Anzahl nicht-psychiatrischer Ärztinnen und Ärzte signifikant mit höherem Behandlungserfolg assoziiert – nicht jedoch die spezifischen psychiatrischen Ressourcen.
Diskussion
Die Studie zeigt eindrücklich, dass die größte Hürde in der Versorgung nicht allein der Zugang oder die Kontaktaufnahme ist, sondern die Qualität der Behandlung. Nur ein Bruchteil der Betroffenen erhält eine Behandlung, die dem Schweregrad und den internationalen Standards entspricht. Besonders problematisch ist die Versorgung von Menschen mit Suchterkrankungen, insbesondere Alkoholabhängigkeit. Trotz der vergleichsweise hohen Prävalenz bleibt die Versorgungslücke hier besonders groß. Interessant ist auch, dass ein höheres Einkommen nicht mit besserer Versorgung korrelierte – wohl aber Bildung und das Bestehen eines Versicherungsschutzes. Dies deutet auf eine gewisse strukturelle und bildungsbedingte Selektivität im Zugang zu wirksamer Behandlung hin. Darüber hinaus wird die zentrale Rolle der allgemeinmedizinischen Versorgung deutlich, die häufig einen wichtigen ersten Zugang zur Behandlung darstellt und dabei mitunter eine größere Bedeutung hat als spezialisierte psychiatrische Angebote.
Tabakentwöhnung durch Nikotin oder Vareniclin bei schwerer und leichter Tabakabhängigkeit
Hintergrund
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Wirksamkeit von Arzneimitteln zur Tabakentwöhnung im Zusammenhang mit dem Schweregrad der Tabakabhängigkeit. Rauchen gilt als das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko in Deutschland und ist mit zahlreichen Erkrankungen, darunter COPD, Lungenkrebs und kardiovaskuläre Erkrankungen, assoziiert. Im Jahr 2018 starben in Deutschland etwa 127.000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Trotz bekannter Risiken konsumieren laut der DEBRA-Studie aus dem Jahr 2024 noch 30,7 % der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren Tabak. Da die Tabakabhängigkeit sowohl physische als auch psychische Komponenten aufweist, benötigen viele Betroffene unterstützende Maßnahmen bei der Entwöhnung. Neben verhaltenstherapeutischen Ansätzen stehen hierfür medikamentöse Therapien zur Verfügung. In Deutschland sind die Wirkstoffe Bupropion, Cytisin, Nikotin und Vareniclin zugelassen, wobei die gesetzliche Erstattungsfähigkeit gemäß § 34 SGB V auf Personen mit schwerer Tabakabhängigkeit beschränkt ist. Während frühere Studien den positiven Effekt dieser Wirkstoffe auf die Rauchfreiheit bestätigten, ist unklar, ob ihre Wirksamkeit vom Schweregrad der Tabakabhängigkeit abhängt. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2022 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Untersuchung des Nutzens der Wirkstoffe Bupropoin, Cytisin, Nikotin und Vareniclin zur Tabakentwöhnung bei Rauchenden mit einer schweren Tabakabhängigkeit beauftragt.
Methodik
Um die Fragestellung zu beantworten, erfolgte eine umfassende Literaturrecherche in bibliografischen Datenbanken, Studienregistern und weiteren Informationsquellen. Zudem wurden Herstellerangaben bei der Analyse berücksichtigt. In die Bewertung wurden ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien mit einer Mindestdauer von sechs Monaten einbezogen. Da die Zielpopulation der vorliegenden Studie Rauchende mit einer schwere Tabakabhängigkeit war, wurden Studien die ausschließlich Rauchende mit einer leichten Tabakabhängigkeit untersuchten, ausgeschlossen. Darüber hinaus wurden nur die Studien einbezogen, die von einer „dauerhaften Rauchfreiheit“ berichteten. Die in die Studie einbezogenen Rauchenden wurden anhand verschiedener Trennwerte in die Subgruppen leicht und schwer tabakabhängig aufgeteilt. Die Schwere der Tabakabhängigkeit wurde anhand des Fagerström-Tests für Zigarettenabhängigkeit (FTZA) bzw. Fagerström Tolerance Questionnaire (FTQ) ermittelt.
Die Einschlusskriterien wurden von insgesamt 136 Studien erfüllt. Während für Bupropion und Cytisin keine ausreichenden Subgruppenanalysen vorlagen, konnten für Vareniclin und Nikotin umfangreiche Daten ausgewertet werden. Für Vareniclin wurden 12 Studien mit insgesamt 9.723 Rauchenden analysiert und für Nikotin 23 Studien mit 15.003 Rauchenden berücksichtigt.
Ergebnisse
Die Ergebnisse der Metaanalyse zeigen, dass die Wirkstoffe Vareniclin und Nikotin einen positiven Effekt hinsichtlich des Erreichens einer dauerhaften Rauchfreiheit unabhängig vom Schweregrad der Tabakabhängigkeit zeigt. Aufgrund von fehlenden Daten konnte für Bupropion und Cytisin keine Untersuchung durchgeführt werden.
Diskussion
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Vareniclin und Nikotin, unabhängig vom Schweregrad der Tabakabhängigkeit, wirksam sind. Diese Erkenntnis steht der derzeitigen Gesetzeslage gegenüber, die eine Erstattung dieser Medikamente nur für Rauchende mit einer schweren Tabakabhängigkeit vorsieht. Die Studienergebnisse legen nahe, dass diese Einschränkung überdacht werden sollte, um mehr Betroffenen den Zugang zu einer wirksamen Tabakentwöhnung zu ermöglichen. Darüber hinaus wurde in Expertenstellungnahmen angemerkt, dass die Schwere der Tabakabhängigkeit nicht allein durch den FTZA bzw. FTQ bestimmt werden sollte. Andere Faktoren, wie wiederholte erfolglose Abstinenzversuche oder das Vorliegen einer tabakassoziierten Erkrankung (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen oder COPD), sollten in die Definition der Zielgruppe einfließen.
Einschüchterung von Befürwortern und Forschenden aus den Bereichen Tabak, Alkohol sowie hochverarbeiteten Lebensmitteln: ein Review
Hintergrund
Industrien für gesundheitsschädliche Konsumgüter (Unhealthy Commodity Industries, UCIs) – insbesondere aus den Bereichen Tabak, Alkohol und der hochverarbeiteten Lebensmitteln – setzen gezielt einschüchternde Taktiken ein, um Regulierungsbemühungen, die ihre Gewinne bedrohen, zu untergraben, zu verzögern oder abzuschwächen. Während bereits dokumentiert ist, dass politische Entscheidungsträger solchen Einschüchterungen ausgesetzt sind, fehlt bislang eine systematische Übersicht über die Erfahrungen von Befürwortern und Forschenden in diesen Sektoren.
Methodik
Im Rahmen eines Scoping Reviews wurde die vorhandene wissehscnaftliche Literatur sowie weitere Quellen (Blogs, Nachrichtenberichte und andere Dokumente) aus den Jahren 2000 bis 2021 zu Einschüchterungstaktiken gegenüber Befürwortern und Forschenden im Kontext von Tabak, Alkohol und hochverarbeiteten Lebensmitteln systematisch erfasst. Die Auswahl und Auswertung der Literatur erfolgte anhand eines deduktiven und induktiven Kategorienschemas, das verschiedene Formen von Einschüchterung (z. B. öffentliche Diskreditierung, rechtliche Drohungen, Überwachung) und die Reaktionsweisen der Betroffenen abbildet. Die Ergebnisse wurden narrativ zusammengefasst und hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Sektoren analysiert.
Ergebnisse
Die Analyse identifizierte zahlreiche Fälle von Einschüchterung über alle drei untersuchten Sektoren hinweg. Am häufigsten waren:
- Öffentliche Diskreditierung der Betroffenen
- Rechtliche Drohungen und Maßnahmen (z. B. Klagen, Abmahnungen)
- Beschwerden bei Institutionen oder Arbeitgebern
- Anfragen nach Informationsfreiheit zur Belastung der Arbeit
Diese Taktiken wurden meist direkt von Unternehmen oder deren Interessenvertretungen angewandt. Seltener, aber dennoch dokumentiert, waren Überwachung, Gewaltandrohungen, tatsächliche Gewalt, Einbruch und Bestechung, wobei in diesen Fällen die Urheberschaft oft nicht eindeutig zugeordnet werden konnte.
Die Reaktionen der Betroffenen auf Einschüchterung variierten. Viele setzten ihre Arbeit trotz Einschüchterung fort. Einige passten ihre Arbeitsweise an oder ergriffen Schutzmaßnahmen. Besonders häufig wurden offensive Strategien gewählt, etwa die öffentliche Thematisierung der Einschüchterung, Korrektur von Fehlinformationen oder rechtliche Gegenmaßnahmen. Das dominierende Thema in der Literatur war jedoch, dass Einschüchterung eine abschreckende Wirkung („chilling effect“) auf die Arbeit von Befürwortern und Forschenden hatte – und dadurch auch auf die Entwicklung und Umsetzung gesundheitspolitischer Maßnahmen.
Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass Einschüchterung gegenüber Befürwortern und Forschenden in allen drei Sektoren verbreitet ist und nach ähnlichen Mustern abläuft. Die Strategien der UCIs sind branchenübergreifend vergleichbar und zielen darauf ab, kritische Stimmen zu delegitimieren, zu isolieren oder mundtot zu machen. Die Auswirkungen reichen von persönlichem Stress und Unsicherheit bis hin zu potenziellen Einschränkungen der wissenschaftlichen und politischen Arbeit. Die Literatur weist darauf hin, dass es bislang an systematischen Ansätzen fehlt, um das Ausmaß und die Folgen von Einschüchterung umfassend zu erfassen und zu adressieren.
Insgesamt unterstreicht die Review die Notwendigkeit, Einschüchterung als ernstzunehmendes Hindernis für evidenzbasierte Politik und unabhängige Forschung im Bereich gesundheitsschädlicher Konsumgüter zu erkennen und aktiv dagegen vorzugehen.